Die menschliche Stimme.
Es gibt so viele unterschiedliche Stimmen, wie es Menschen auf dieser Erde gibt. Jeder Mensch, selbst eineiige Zwillinge, haben eine einzigartige Stimme. Die Individualität der Stimme setzt sich aus vielen verschiedenen Faktoren zusammen, wie der Grösse des Brustraums, der naturgegebenen Resonanz, Länge und Spannungsfähigkeit der Stimmbänder, um nur ganz wenige Faktoren zu nennen.
Eine weitere grosse Rolle spielt selbstverständlich der Kulturkreis. Die Sprechstimmhöhe variiert je nach Sprache beachtlich, besonders bei uns Frauen. Eine Spanierin spricht tendenziell viel tiefer als eine Französin. Wir Deutschsprachigen sind irgendwo dazwischen angesiedelt, wobei die Sprechstimme, die bei uns Frauen als angenehm empfunden wird, in den letzten Jahren auch eher in die tieferen Lagen gewandert ist. Noch in den 50er Jahren waren die weiblichen Sprechstimmen deutlich höher, wie Radio und Fernsehaufnahmen belegen. Aber nicht nur die Zeit wandelt sich, auch der Geschmack, das Aussehen, die Mode und eben auch die allgemeine Sprechstimmlage.
Ich werde in einem der nächsten Blogbeiträgen ausführlich auf das Phänomen der Stimme eingehen und einen kleinen physiologischen Exkurs mit Ihnen machen, liebe Leser*innen. Heute nur eine ganz grobe Zusammenfassung, denn noch eine andere Geschichte befasst sich mit der menschlichen Stimme:
Eine Mono-Oper (Ein Frau-Stück in dem Fall) von Francis Poulenc (1899*-1863). Sie ist gleichzeitig das letzte vollendete Bühnenwerk von Poulenc, das im Februar 1959 an der Opéra Comique de Paris aufgeführt wurde.
Das Libretto stammt aus der Feder seines Freundes und Mentors Jean Cocteau. Cocteau wurde am 5.Juli 1889 in Maison-Lafitte, Frankreich geboren. Sein Vater war ein erfolgreicher Rechtsanwalt, der Suizid beging als Cocteau gerade mal 10 Jahre alt war. Cocteaus aussergewöhnliche künstlerische Begabung zeigte sich sehr früh. Bereits im Alter von 17 Jahren veröffentlichte er erste Gedichte, mit 19 Jahren den ersten Gedichtband. Er wurde nicht akademisch, sondern von den grossen Künstlerpersönlichkeiten seiner Zeit geprägt, was sich im Schaffen seiner zahlreichen Werke zeigt. Er war Dichter, Romancier, Dramatiker, Filmregisseur, Choreograph, Essayist und Maler. Sein gesamtes Werk ist von einem grundsätzlich poetischen Geist durchdrungen. Poesie hat bei ihm Sprache und Formen so sehr geprägt, dass die üblichen Gattungskriterien eine untergeordnete Rolle spielen. Selbst Malerei und Literatur scheinen bei ihm ineinanderzufliessen. Durch seine universelle Begabung im Kunstbereich avancierte er rasch zum "Maître de plaisir" von Paris.
Er entwarf und gestaltete die Kostüme und Bühnenbilder seiner Stücke oft selbst und arbeitete mit Künstlern wie Pablo Picasso oder Charlie Chaplin eng zusammen, kannte und schätzte Edith Piaf sehr, die nur einen Tag vor ihm starb. Natürlich kannte er auch "Les six" um Erik Satie bestehend aus Georg Auric (1899*-1983), Louis Durey (1888*-1979), Arthur Honegger (1892*-1955), Darius Milhaud (1892*-1974), Germain Tailleferrre (1892*-1983) und Francis Poulenc (1899*-1963). Ab 1918 wurde Cocteau ihr Wortführer. Les six wandten sich von der romantischen, für ihren Geschmack, harmonisch überladenen Musik ab und suchten neue Wege und Stilmittel der zeitgenössischen Musik. Ihre Stilistik beinhaltet Elemente des Jazz, Variété- und Zirkusmusik aber auch Neoklassizismus. Francis Poulenc, selber ein herausragender Pianist, verstand es seinen ganz eigenen Stil zu entwickeln. Er war 10 Jahre jünger als Cocteau, am 7. Januar 1899 in Paris in eine musikalische Familie hineingeboren. Mit 15 Jahren wurde er Schüler von Ricardo Vines. 1958 sagte Poulenc in einem Interview, dass er ihm alles zu verdanken hätte. Viele seiner frühen Werke sind für Klavier. Später komponierte er zahlreiche Lieder für den gleichaltrigen Bariton Pierre Bernac (1899*-1979), den er 1926 kennen lernte und während 25 Jahren regelmässig als Pianist begleitete.
Das Leben von Jean Cocteau wie auch jenes von Francis Poulenc war von Schicksalsschlägen geprägt. Beide gingen sehr unterschiedlich damit um. Während Cocteau sich ins Opium flüchtete, von dem er sehr schwer wieder loskam, fand Poulenc im katholischen Glauben Halt. Dies schlug sich in einer Reihe geistlicher Werke nieder, die viele als wichtigster Teil seiner Arbeit sahen und bis heute sehen, während er selbst seinen Schaffensschwerpunkt in der Oper empfand. "La Voix Humaine" ist seine letzte Oper, basierend auf einem Telefonmonolog von Jean Cocteau.
Es ist eine Tragödie in einem Akt und absolut zeitlos. Die Handlung könnte überall und zu jederzeit stattfinden. Als Ausstattung werden ein Bett und ein Schnur-Telefon benötigt, vielleicht noch ein Stuhl.
Die Handlung ist so simpel wie aktuell: Eine Frau wurde von ihrem Partner verlassen.
Mit diesem Telefonat möchte sie Antworten auf das WARUM finden und sie möchte alles, was falsch gelaufen war rückgängig machen. Sie will die Trennung nicht akzeptieren. In den 40-50Minuten dieser Oper durchläuft die namenlose Frau alle Emotionen: Zuversicht, Trauer, Wut, Angst, Verletztheit, Glück, Verzweiflung. Einzig die Schnur des Telefons ist noch eine Verbindung zu ihrer Liebe. Die Antwort des Gegenübers ist nicht hörbar. Auch nicht die vielen Unterbrechungen, weil eine schlechte Verbindung vorherrscht und das Gespräch falsch geschaltet wird. Es ist ein Wechsel der Gefühle. Von der Hoffnung in die Hoffnungslosigkeit. Vom "Wir" in das verlassene, verzweifelte "Ich". Ob am Ende der Oper die Frau nach der Endgültigkeit der Trennung ein neues Leben anfängt, oder sich mit der Telefonschnur erdrosselt, bleibt offen.
Die Oper wurde sowohl für Orchester als auch für Klavier konzipiert. Im Gegensatz zu sehr vielen anderen Komponisten war Poulenc offen gegenüber Übersetzungen und wünschte sogar, dass sein Werk in andere Sprachen übertragen und aufgeführt würde. Die Deutsche Adaption von Wolfgang Binal ist sehr gelungen und authentisch.
Vor einigen Jahren hatte ich das grosse Glück diese Oper einstudieren zu dürfen. Es war eine immense Herausforderung. Die Oper wurde zusätzlich mit "La Dame de Montecarlo" gekoppelt und mit Zitaten von Jean Cocteau zu einer Art Poulenc/Cocteau-Collage ergänzt. Wir hatten rund 3 Wochen Proben vor der 6 wöchigen Sommerpause. Der Sommer war sehr heiss und die bis zu 6 Stunden dauernden Proben in der schlecht isolierten, sehr aufgeheizten Probebühne anstrengend. Gleichzeitig war es unglaublich spannend und schmerzhaft in meine seelischen Abgründe abzutauchen und nach der grössten Emotionalen Spannbreite zu suchen, die sie hergab. Mein Regisseur Fabian von Matt war sehr fordernd, geduldig und hilfsbereit und zugleich nur mit dem Besten und Authentischsten zufrieden. Emiliano Greizerstein am Klavier war eine sehr wertvolle Stütze und Begleitung. Nach der Sommerpause waren noch einmal rund 4 Wochen keine Proben, um danach innerhalb von knapp 10 Tagen die 70 Bühnenminuten der Collage premièrenreif auf die Bühne zu bringen...
Wir haben alles mit Video aufgezeichnet und über die Sommerpause habe ich die Partie wieder und wieder repetiert und auswendig gelernt bis jede Note und jedes Wort sass, ohne dass ich gross nachdenken musste. Die Oper verlangt eine sehr grosse Textverständlichkeit. Ich musste den Mut finden zu hässlichen Farben in meiner Stimme. Auf einmal wurde ich zu einem Lautmaler, oder eben zur menschlichen Stimme. Es heißt immer wieder, dass die menschliche Stimme Vorbild für viele Klanginstrumente gewesen sei, dass aber kein Instrument eine solche Klangvielfalt wie die Stimme erreichen könne. Bis dahin hatte ich das nicht verstanden. Mit der Probearbeit, der Auseinandersetzung des Textes wurde mir klar, was gemeint war.
Damit diese Oper nicht langweilig wird, muss die ganze Spannbreite an Klängen her: Flüstern, singen, lachen, weinen, notengebunden schreien, Zärtlichkeit, Hass, Verachtung...
Es war das erste Mal, dass ich mich auf der Bühne komplett vergass. Ich vergass Raum und Zeit, wer ich in Wirklichkeit war. Ich war nur noch diese Frau, diese Stimme. Sie verlangte alles von mir, was ich hatte und gleichzeitig bereicherte sie mich ungemein.
Nun habe ich sie nach 6 Jahren wieder aktiviert. Habe sie mir angeschaut und versucht mich an alles zu erinnern. Heute habe ich sie gemeinsam mit Byron Knutson an dieser Partie gearbeitet. Während er mich am Klavier begleitete kamen alle Emotionen, Erinnerungen hoch, die ganzen Bühnengänge wurden mir auf einmal wieder gegenwärtig. Das Stück erfasste mich wieder und ich fühlte, dass ich ihr heute noch so viel mehr an Emotionen geben kann, als zu der Zeit meiner 1. Einstudierung.
Ich freue mich, dass ich erneut mit dieser Figur auf Reisen gehen kann. In diesen Zeiten, wo viele Menschen auf engem Raum nicht erwünscht sind Pandemiebedingt, ist es das Stück der Stunde. Nun liegt wieder einige Arbeit vor mir mit auswendig lernen, Bühnengängen wiederholen oder neu erfinden. Im Oktober soll die namenlose Frau wieder über eine kleine Bühne gehen, im Studio von Byron.
Ich freue mich darauf!
Fotos:Jörg Metzner
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