Berlin hat eine riesengrosse Anzahl an Chören die im Laien- bis hin zum Semiprofessionellenbereich agieren. Neben den Profichören der 3 grossen Opernhäuser, des Rundfunkchors Berlins und des Rias Kammerchors.
Die Profichöre und Profisänger*innen dürfen in der Pandemie unter sehr strengen Auflagen proben, nur nicht vor Publikum auftreten, ausser in Gottesdiensten.
Laienchören sind Präsenzproben bis auf weiteres untersagt. Wie soll ein angemessenes Chorleben auch für Laien erhalten bleiben?
Manche der Chöre proben über eine der zahlreichen Onlineplattformen wie Zoom, Googlemeet oder ähnliche zu den feststehenden Zeiten. Für den Chorleiter ist dies eine sehr schwere Aufgabe. Klangarbeit, von der Chorproben leben, ist über solche kaum möglich. Das Miteinander fehlt, der Raumklang fehlt. Konzerte sind bis auf weiteres keine möglich oder in Sicht, also auch kein wirkliches Ziel worauf man hinarbeiten könnte. Wie also die Mitglieder bei Laune halten und dafür sorgen, dass die Chöre nicht massiv schrumpfen und auch nach der Pandemie etwas vom einst reichen Chorleben erhalten ist?
Die Singakademie Potsdam und der Berliner Oratorienchor haben unter der Leitung von ihrem langjährigen Dirigenten Thomas Hennig ein eigenes Konzept entwickelt.
Die Proben werden aufgenommen und von einem solistisch mit Profis besetzten Quartett eingesungen unter Einhaltung von strengsten Hygieneauflagen versteht sich.
Am vergangenen Montag war die erste Probe dieser Art. Der Saal ist sehr gross und durch ein Belüftungsgerät ausgestattet, das alle Aerosole aus der Luft filtert und leise vor sich hin summt. Der Abstand zwischen den Sänger*innen beträgt rund 3 Meter und zum Flügel mit dem Pianisten und dem Dirigenten sind es auch mindestens noch einmal soviel. Es sind nur noch in sicherer Entfernung zwei Techniker vor Ort. Alle die nicht singen oder dirigieren tragen die ganze Zeit FFP2 Masken. Nach einer gewissen Zeit wird der ganze Saal für eine bestimmte Zeit quer gelüftet. Alle Auflagen werden auf das Penibelste eingehalten.
Für die Singakademie Potsdam sangen wir das Gloria in D-Dur von Vivaldi ein.
Antonio Vivaldi (1678-1741) ist den meisten von uns eher als Komponist der "Vier Jahreszeiten" für Violine solo und Streichorchester bekannt und weniger als Komponist der Kirchenmusik. Zu seinen Lebzeiten war er ein bekannter und angesehener Komponist, auch von Opern. Aufgewachsen als eines von 10 Geschwistern erhielt er früh eine musikalische Ausbildung wahrscheinlich von seinem Vater, der ein angesehener Geiger war und wurde zum frühstmöglichen Zeitpunkt zum Priester geweiht. Er gab jedoch das Amt des Priesters nach einigen Jahren für immer auf und widmete sich dem Musikunterricht. Er betreute das Orchester eines Mädchen Waisenhauses des Ospedale della Pièta. Viele seiner Werke wurden für das dortige Orchster und den Chor komponiert. Nach seinem Tod gerieten fast alle seine Kompositionen in Vergessenheit. Erst über 200 Jahr später in den 1930er Jahren wurden sie Stück für Stück wiederentdeckt. So auch das Gloria in D- Dur. Bis heute werden immer wieder "neue" Werke von Vivaldi ausgegraben und wieder zum klingen gebracht.
Wir sangen das Gloria in D-Dur am Montag als Quartett. An manchen Stellen nur zwei Stimmen gekoppelt, so dass die Sängerinnen und Sänger zu Hause sich alles anhören und dazu üben können. Thomas Hennig gab genau Hinweise und Anweisungen und liess uns diese genauso singen, wie er was stilistisch haben möchte und worauf die Sänger*innen zu achten haben.
Beim Berliner Oratorienchor stand Johannes Brahms (1833-1897) "Warum ist das Licht gegeben den Mühseligen" 1. und 4. Satz, und von Lily Boulanger einige Werke auf dem Programm.
Brahms hat diese Motette 1878 komponiert. Ähnlich wie in seinem Werk "Ein deutsches Requiem" mischt er Texte vom alten und vom neuen Testament. Er beschäftigt sich mit der Theodizee. Es ist die Suche nach einer Antwort auf die Frage, wie ein Gott gleichzeitig auf all das Leid dieser Welt blicken kann, das er mit seiner Allmacht eigentlich verhindern könnte und trotzdem ein liebender und gerechter Gott sein kann.
So fängt Brahms Motette mit der Frage Warum? an gefolgt von folgenden Zeilen:
Warum ist das Licht gegeben dem Mühseligen,
und das Leben den betrübten Herzen,
die des Todes warten und kommt nicht,
und grüben ihn wohl aus dem Verborgenen,
die sich fast freuen und sind fröhlich,
daß sie das Grab bekommen,
und dem Manne, deß Weg verborgen ist,
und Gott vor ihm denselben bedecket?
(Hiob 3,2-26)
Lasset uns unser Herz samt den Händen aufheben zu Gott im Himmel.
(Klagelieder Jeremias 3,41 )
Siehe, wir preisen selig, die erduldet haben. Die Geduld Hiob habt ihr gehöret, und das Ende des Herrn habt ihr gesehen; denn der Herr ist barmherzig und ein Erbarmer.
(Brief des Jakobus 5,11)
Mit Fried und Freud ich fahr dahin, in Gottes Willen, Getrost ist mir mein Herz und Sinn, sanft und stille. Wie Gott mir verheißen hat: der Tod ist mir Schlaf worden
(Choral von Martin Luther "Mit Fried und Freud fahr ich dahin")
und endet wieder mit der unbeantworteten Frage
Warum?
Die Motette, welche zu Recht auch als Brahms "kleines deutsches Requiem" bezeichnet wird orientiert sich nicht nur am Bachschen Kontrapunkt sondern auch an der alten klassischen Polyphonie. Brahms passt auf meisterhafte Weise den religiösen Text in den Rhythmus, Harmonik und in die Polyphonie ein.
Es ist ein durchaus anspruchsvolles, schönes Werk vor allem, weil es a Capella gesungen wird. Für einen Chor ist a Capella Literatur sehr anspruchsvoll und eine Herausforderung. Für ein Solistisch besetztes Quartett ist es noch kniffliger. Wir sangen nach der detaillierten Probenarbeit die Motette a Capella durch ohne an Tonhöhe einzubüssen.
Nun standen noch zwei Werke von Lili Boulanger auf dem Plan: "Pour les Funérailles d'un Soldat" und "Pie Jesu".
Lili Boulanger(1893-1918) war eine französische Komponistin. Sie wurde in eine Musikerfamilie hinein geboren. Ihre Mutter war Sängerin und Gesangslehrerin, ihr Vater Komponist. Ihre ältere Schwester Nadia wurde auch Komponistin. Lili war von frühster Kindheit an mit einer gebrechlichen und schwächlichen Gesundheit ausgestattet. Sie litt unter einer Bronchialpneumonie und Morbus Crohn. Dadurch war es ihr nicht möglich den regulären Schulbetrieb zu besuchen. Trotzdem genoss sie eine gute Ausbildung und eine sehr gute musikalische Ausbildung. Sie begleitete ihre Schwester oft ans Konservatorium und setzte das Gehörte auf ihre Weise zu Hause am Klavier um.
Früh schon begann sie mit dem Komponieren. Mit elf Jahren verlor sie ihren Vater. Sie verarbeitete es in einer Komposition, die sie leider später, wie viele andere Frühwerke viel zu selbstkritisch vernichtete.
1913 gewann sie den Komponistenwettbewerb in Rom. Das verhalf ihr zum Durchbruch. Sie war die erste Frau in 110 Jahren, die den Wettbewerb gewann.
Es folgten viele spannende und anstrengende Konzerte. Doch der Erfolg und die viele Arbeit forderten ihren Tribut: Im Winter 1913 steckte sich Lili bei ihrer Schwester mit den Masern an. Zusätzlich zu den Masern flammte ihr altes Magen-Darm-Leiden wieder auf und eine schwere Lungenentzündung kam erschwerend hinzu. Die junge Frau spürte, wie ihre Lebensenergie unaufhörlich und unwiederbringlich dahinfloss. Sie arbeitete unermüdlich an ihren Kompositionen.
1917 wurde Lili der Blinddarm entfernt in der Hoffnung ihre Leiden zu lindern. Doch die Ärzte konnten nur feststellen wie weit fortgeschritten die Zerstörung ihres Darms bereits war. Ihre Lebenszeit lief unaufhaltsam und immer schneller ab.
Lili war nach der Operation sehr geschwächt und konnte sich kaum aufrechthalten. Trotzdem komponierte sie immer weiter. Eines ihrer wichtigsten Werke, das in der Zeit entstand ist das "Pie Jesu" für Sopran, Orgel, Harfe, Streichquartett und Orchester.
Dieses Werk sang ich am Montag Abend. Das Wissen um die Endlichkeit ihres Lebens spiegelt sich in ihm wieder. Die Gesangsmelodie ist schlicht und vielleicht gerade deswegen ergreifend. Die Akkorde, die die Melodie stützen sind teilweise sehr modern, clusterartig und geben dem ganzen Werk eine Spannung. Es ist ein Flehen zu spüren und gleichzeitig umgibt die Musik eine Helligkeit und ein Licht, wie wenn ein Lichtstrahl durch die Dunkelheit bricht. Eine Vorahnung auf den nahenden Tod?
Unter der liebevollen Pflege ihrer Schwester Nadia und ihrer Freundin Miki starb Lili Boulanger ganz ruhig am 15. März 1918.
Ihre Schwester Nadia setzte sich den Rest ihres Lebens für die Aufführung der Werke ihrer Schwester ein. Ihr ist es zum grossen Teil zu verdanken, dass Lili Boulangers tollen Werke bis heute immer wieder aufgeführt werden.
Für uns Sänger*innen war es sehr anspruchsvoll diese Werke stilgerecht und nur zu viert zum Klingen zu bringen. Immerhin eine Zeitreis vom 17. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert.
Ich hoffe sehr, dass wir mit unserem Gesang die Chorsänger*innen motivieren können weiter zu singen und durch diese schwere Zeit begleiten können! Es wird ein danach kommen. Wichtig ist, dass wir darauf vertrauen und weiter gehen und die Dinge weitermachen, die unser Herz erfreuen.
Singen tut uns allen gut. Es ist Nahrung für unsere Seele und ich glaube, wir alle können von dieser wunderbaren Nahrung zur Zeit wirklich brauchen!
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