Teil 2 Praxis
Bevor ich ins Engagement ging habe ich einige Jahre am musisch orientierten Gymnasium Georg-Friedrich-Händel in Berlin als Stimmbildnerin gearbeitet.
Bestandteil des Gymnasiums sind verschiedene Chöre und das Angebot der Stimmbildung ist für die Kinder obligatorisch. Die Eltern können ihren Kindern die Stimmbildung privat zukommen lassen oder das Angebot der Schule nutzen.
Dort findet dann der Unterricht in Gruppen statt. Meistens nach den Proben und dem Unterricht ab 14 Uhr.
Die Gruppen umfassten bis zu sechs Kindern.
Für mich war zu Beginn die grösste Herausforderung die Stimmen der Kinder kennen zu lernen und wenn sie gemeinsam sangen zu unterscheiden.
Eine Stibi-Stunde
Bei schönem Wetter ging ich mit den Kindern auf den Pausenhof hinaus zum Aufwärmen. Wir spielten dann so 10 Minuten Fangen oder andere Bewegungsspiele. Danach stimmten wir unseren Körper auf das Singen ein. Meistens gefolgt von Atemübungen. Die meisten Kinder haben eine natürliche Hochatmung und erst mit Beginn der Pubertät beginnen sie die ganzheitliche Atmung umzusetzen. Ich achtete also darauf, dass die Kinder lernten die Rippen weit zu halten und dass sie staunend einatmeten um auch den Raum für das Singen vorzubereiten.
Danach gingen wir zurück ins Schulzimmer. Dort machten wir Einsingübungen. Diese unterscheiden sich nicht von jenen der Erwachsenen. Ich lernte ihnen den Unterschied zwischen weichem Stimmeinsatz und hartem, zeigte ihnen, was passiert wenn sie gähnen und vieles mehr. Wenn ich eine Stimme genauer überprüfen wollte, habe ich die Kinder zu zweit oder manchmal auch alleine singen lassen, je nach dem, ob die Kinder eher schüchtern waren oder nicht. Erfahrungsgemäss hatten nach dem 1. Quartal alle Kinder den Mut alleine zu singen.
Danach arbeiteten wir an der Literatur, Liedern und Kanons. "Marmottenbub" von Beethoven war sehr beliebt oder auch Sally Gardens von Britten. Bei mir war das Motto wer meckert und wem meine Literaturauswahl nicht passt soll einen konstruktiven Gegenvorschlag bringen. So kam es, dass die Kinder auch Vorschläge mit, auf die ich mich gerne einliess.
Ich lernte in dieser Zeit sehr viele Kinderstimmen kennen. Zwei Fälle sind mir in besonderer Erinnerung:
Der Fall Anna
Anna kam in der 5. Klass zu mir und war ein eher kleines Mädchen mit einem runden Gesicht mit ausgeprägten Wangenknochen und einer eher tiefen Sprechstimme für ihr Alter. Sie besass eine normale Mittellage, doch nicht viel Höhe. Sie sang gerade so bis g2. Also überprüfte ich bei ihr eines Tages die Tiefe und stellte fest, dass sie eine ungewöhnliche Tiefe besass. Sie sang mühelos bis e.
Ich riet ihr daraufhin bei der nächsten Chorstimmüberprüfung, die regelmässig stattfanden, dem Chorleiter schöne Grüsse zu bestellen mit der Bitte sie im Alt2 und nicht wie bisher im Alt1 einzusetzen, was dann auch gemacht wurde.
Der Fall Werner
Auch Werner wurde ab der 5. Klasse von mir betreut. Er war ein kleiner und, im positiven Sinne, frecher, aufgeweckter Knabe. Werner hatte in der Mittellage eine eher dünne und unauffällige Stimme.
Um die Stimmumfänge der Kinder kennen zu lernen, machte ich beim Einsingen spielerische "Wettkämpfe". So konnte ich mühelos erfahren wie hoch oder wie tief die Kinder singen konnten. Bei so einem "Wettkampf" stellte ich fest, dass Werners Stimme erst ab der höheren 2 gestrichenen Oktave, also so a2 zu klingen begann und weit in die 4 gestrichene Oktave hineinreichte. Die Klangqualität seiner Stimme entfaltete sich erst weit über dem Bereich der gängigen Literatur.
Eines Tages kam Werner sehr geknickt in den Unterricht. Bei der Chorstimmüberprüfung wurde er vom Chorleiter gemahnt mehr an seiner Mittellage zu arbeiten und diese auszubauen. Ich riet Werner in seinem speziellen Fall nichts zu ändern. Ich erklärte ihm, dass mit dem Wachstum seine Mittellage von selber grösser werden würde vorausgesetzt er würde weiterhin technisch sorgfältig singen und üben, was er auch machte.
Die Jungs
Lustig war auch, dass die Jungs oft von mir wissen wollten, welche Stimmlage sie nach der Mutation singen würden. Ich liess mich nur auf vage Vermutungen ein und erklärte ihnen, dass es sich so pauschal nicht sagen lasse. Natürlich ist es oftmals so, dass Knabensoprane zum Bariton oder Bass werden können und Altknaben zu Tenören. Doch einfach generalisieren lässt sich das wirklich nicht. Oft fragte ich sie, welche Stimmlage ihre Väter, Onkels oder Opas hätten. Daraus lassen sich eher Rückschlüsse ziehen, weil Stimmen sich, genauso wie andere Körpermerkmale, vererben lassen.
Fazit
Bis heute ist mir die Stimmbildung mit Kindern lieb. Kinder sind ein gnadenloser Spiegel. Sie zwingen mich ihnen technisch korrekt vorzusingen.
Durch mein Engagement musste ich die Stimmbildung an der Händel-Schule aufgeben. Ich habe durch die Gruppenstimmbildung und die Arbeit mit diesen musikalischen und klugen Kindern sehr geschätzt.
Auch heute bereite ich Immer wieder Kinder mit Erfolg auf die Aufnahmeprüfung an der Händel-Schule vor.
Die Zeit dort als Stimmbildnerin habe ich in liebevoller Erinnerung, vor allem wenn ich an die Kinder, die ich begleiten durfte denke. Ich bin dankbar für die Erfahrung und die Begegnungen. Es ist für mich bis heute eine wertvolle Bereicherung.
Comments